
„So eine verdammte Scheiße!“
Laura trat gegen die Tür der Arztpraxis, die sie gerade unsanft hinter sich ins Schloss hatte fallenlassen. Sie war schon fast auf der Treppe gewesen, hatte aber extra noch einmal kehrtgemacht, um wenigstens die Tür wissen zu lassen, was sie von ihrer momentanen Lage hielt.
„Das kann doch alles nicht wahr sein!“
Der Tritt war nicht allzu fest gewesen, denn entgegen des ersten Eindrucks war Laura kein gewaltbereiter Mensch. Im Gegenteil: Sie war durch und durch freundlich, positiv, geradezu unbeirrbar optimistisch – unerträglich optimistisch, wie ihr Freund Ben sagen würde. Wie sollte sie auch nicht mit absoluter Zuversicht auf ihr Leben schauen, da ihre liebenden Eltern doch alles dafür getan hatten, ihren Augenstern von Schwierigkeiten fernzuhalten. Laura war gar keine Wahl geblieben, als sich eine strahlende Zukunft auszumalen, in der nichts Unvorhergesehenes geschehen würde.
„Wieso passiert ausgerechnet mir diese Scheiße?“
Eine berechtigte Frage, auf die es mehrere mögliche Antworten gab.
Erstens: Das Schicksal hatte gewürfelt. Es hatte in den großen Wühltisch an lebensverändernden Wendungen gegriffen, eine ungewollte Schwangerschaft herausgezogen und sich gefragt: „Wem gebe ich das am besten?“ Und da das Schicksal keinesfalls ein mieser Verräter, sondern einfach nur ein großer Freund des Glücksspiels war, hatte es ein kleines Steinchen auf die Erde geworfen, das direkt vor Lauras Füßen liegenblieb.
Zweitens: Karma. Die ach so hilfsbereite Laura, die zwischen Abitur und Studium den kurzen Moment absoluter persönlicher Freiheit statt für den obligatorischen Partyurlaub dafür verwendet hatte, bei glühender Hitze Babyschildkröten über den Strand ins Meer zu tragen, musste irgendwo im Keller eine Leiche verscharrt haben. Wenn nicht in diesem Leben, dann in einem vorherigen. Wenn man nur tief genug grub, fand man bei jedem einen verwesenden Toten, und so hatte sie es mehr als verdient, dafür einen Bumerang in den Nacken zu bekommen, bevor sie es sich nach dem Studium in ihrem perfekten Leben bequem machen konnte.
Drittens: Die ungewollte Schwangerschaft, die ihr Arzt ihr gerade schwarz auf weiß auf einem Ultraschallbild verewigt hatte, obwohl Laura gar keine Aufnahme von dem sogenannten Wunder des Leben sehen wollte, war gar keine Krise, sondern eine Chance; kein Problem, sondern eine Herausforderung. Gott wollte ihr als ihr Personal Trainer nur die unbezahlbare Gelegenheit geben, an ihren Aufgaben zu wachsen. An diese Möglichkeit hatte Laura als überzeugte Atheistin natürlich nicht gedacht. Das war aber nicht schlimm, denn in den nächsten Tagen, wenn sie bis spät in die Nacht an ihrem Laptop sitzen würde, um herauszufinden, wie tief sie tatsächlich in der Scheiße saß, würden sie einige erschreckend hilfsbereite Fremde immer wieder auf diese Sichtweise aufmerksam machen. Mit Nachdruck. Und dem Versprechen, dass sie sie bis zum Ende ihres Lebens eine Mörderin nennen würden, sollte sie nicht mit großem Hurra ihre Pläne über den Haufen werfen, um sich mit ungeahnter Kraft ihrer neuen Bestimmung zu widmen.
Viertens: Laura war selber schuld. Was hatte sie auch Sex, wenn sie gerade keine Kinder wollte? Schließlich ging es dabei doch allein um Fortpflanzung. Verhütung hin oder her. Und Liebe, Lust und Leidenschaft waren auch keine Entschuldigung. So ähnlich würde es nächste Woche beim Familientreffen ihre Tante Claudia formulieren, obwohl sie erst um die 50 war und Lauras über 90-jährige Oma sie vor versammelter Mannschaft für ihre Ansichten und mangelnde Lebensfreude auslachen würde.
Von all diesen Einmischungen von außen ahnte Laura aber noch nichts, als sie auf der Straße vor der Arztpraxis in endlosen Kreisen hin und her lief. Sie hatte sich augenblicklich für Antwort eins entschieden: das unvorhersehbare Schicksal, das ihr einen Stein in den Weg gelegt hatte. Einen Stein, aus dem sie nichts Schönes bauen wollte, sondern den sie möglichst schnell loswerden musste, wenn sie wie geplant in zwei Monaten mit Ben nach Madrid ziehen wollte, um dort ein Praktikum als Journalistin anzufangen.
„Ich bekomme das hin. Einen Schritt nach dem anderen.“
Zwei Wochen und viele Vorwürfe, Diskussionen über den Sinn des Lebens und enttäuschte Verwandte später machte Laura einen Schritt über die Schwelle ihres Badezimmers und ließ sich deutlich weniger optimistisch auf den Boden sinken.
Den Eingriff hatte sie immer noch nicht vornehmen lassen können, doch ihr Körper fühlte sich bereits jetzt an, wie einmal auf links gezogen. Sie hatte ihn nicht davor beschützen können, von allen Seiten prüfend unter die Lupe genommen zu werden, als würde sie selbst nicht richtig damit umgehen. Alles Auf-die-Hinterbeine-Stellen hatte nichts gebracht, außer jeder Menge Ärger. Man traute ihr die Entscheidung nicht zu und ohne die Unterstützung ihrer Familie – sprich: Geld für den Eingriff und ein Auto für den Weg – würde sie sie nur mit Glück umsetzen können. Am meisten verletzte sie aber die Erkenntnis, dass die Liebe ihrer Eltern doch nicht ganz so bedingungslos war wie angenommen. Sie hatte in den letzten Tagen viel verloren.
„Weine nicht, Laura“, sprach eine sanfte Frauenstimme zu ihr. „Ich bin Maren.“
Laura verschluckte sich vor Schreck an ihrem eigenen Schluchzen. Ihr Kopf schnellte nach oben, die Augen hin und her blitzend, auf der Suche nach einer Erklärung. Die Erscheinung schwebte einen Meter über ihr in der Mitte des Raumes: ein goldenes Licht, das aus einer Frauengestalt heraus schien wie durch Milchglas.
Was zur Hölle war mit ihrem Verstand passiert? Ließ der ganze Druck sie halluzinieren?
„Vielleicht“, antwortete das Wesen auf ihre unausgesprochenen Gedanken, „aber ich bin so oder so hier – welchen Unterschied macht es also?“
Laura starrte die Frau unbeweglich an.
Maren kicherte: „Die Schockstarre hält für gewöhnlich zwei bis drei Minuten an. Wenn du soweit bist, dann folge mir …“ Und sie erstrahlte so hell, dass sich ihre Konturen von innen heraus auflösten und nur noch ein Oval aus jenem weichen Licht vor ihr schwebte, das langsam in Richtung Boden sank. Unten angekommen, war es eine Tür, die Laura mühelos durchschreiten könnte.
„Ich muss komplett bescheuert sein“, meinte sie zu sich selbst, während sie gleichzeitig eine Fingerspitze nach dem äußeren Rand des Ovals ausstreckte. Sie traf auf keinen Widerstand, aber ihre Hand spürte eine angenehme Wärme. Was auch immer hier vor sich ging: Alles war besser als weinend auf kalten Fliesen zu liegen!
Also raffte Laura sich auf und folgte Maren durch das Tor; hinein in einen Raum, der mit nichts vergleichbar war, was sie je im Leben gesehen hatte: Wie im Inneren einer Lavalampe waberte das goldene Licht in zähflüssigen Klumpen um sie herum – verschmolz, teilte sich wieder, von oben nach unten und links nach rechts in alle Richtungen. Der Boden bewegte sich in Wellen, die Decke hob und senkte sich. Ein warmer Atem strich ihre Haut entlang.
Lauras Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, bis sie nicht mehr vorwärtskam. Ihre Trauer darüber, von ihrer Familie allein gelassen worden zu sein, klumpte sich in ihrem Inneren zusammen und zog sie wie ein Stein nach unten. Zitternd vor Kälte ging sie auf die Knie, stützte sich schwach mit den Armen ab, bis auch sie ihr Gewicht nicht mehr trugen und sie sich flach auf den wabernden Boden legte. Zum ersten Mal seit Wochen dachte sie an überhaupt nichts. Ihr Kopf war wunderbar leer und sorglos. Dafür wurde ihr Herz immer schwerer.
Was würde geschehen, wenn sie losließ?
Der Boden kroch in dünnen Lagen an ihr hinauf. Es machte den Schüttelfrost erträglicher, drückte die Kälte aus ihrem Körper hinaus, am Herzen vorbei – und nahm den Schmerz mit sich. Mit einem Mal begann Laura so hemmungslos zu weinen wie nie zuvor im Leben. Die Tränen zogen schwarze Fasern aus allen Ecken ihres Körpers, in die die Verzweiflung ihre Krallen geschlagen hatte.
Als alles vorbei war, lag sie kraftlos auf dem Bauch, den Kopf nach links gedreht, und rührte sich nicht. Was sie aufrechtgehalten hatte, war fort: die Wut, ihr Kampfgeist, ihr Aufbäumen gegen Ungerechtigkeit. In ihr blieb nur ein ungekannter Gleichmut: Was geschehen sollte, würde geschehen. Es würde sich alles fügen.
Viele Hände zogen Laura wieder hinauf – erst auf die Knie, dann weiter auf die Füße, wo sie sich wankend aufrecht hielt, indem sie sich auf Maren stützte. Niemand anderes war zu sehen. „Wo bin ich hier?“, flüsterte sie kaum hörbar.
„An einem sicheren Ort – wo du Kraft schöpfen kannst, wenn das Leben dir alles abverlangt.“
Lauras bewegte vorsichtig ihre Arme und Beine. Die bleierne Schwere war verschwunden. Nur der durchnässte Kragen ihres Pullovers und die Tränenspuren auf ihrem Gesicht erinnerten noch an ihren Zusammenbruch zu Marens Füßen. Nichts ergab irgendeinen Sinn.
„Den Rest schaffst du selbst“, meinte Maren mit einem aufmunternden Lächeln. „Lass dich nicht von ihnen kleinmachen.“
Wann hatte die Lavalampe aufgehört, sich zu bewegen? Auch das Gold verlor merklich an Glanz. „Wie?“, rief Laura voller Angst, ihre Chance zu verpassen, während die Wände um sie herum durchsichtiger wurden und ihr Badezimmer durchscheinen ließen. „Wie schaffe ich den Rest? Ich weiß nicht weiter …“
„Du musst der Welt sagen, was du brauchst … Deine einsamen Kämpfe sind unnötig, wenn du dich traust, dich zu öffnen.“
Laura erschrak: Sich noch mehr öffnen? Bisher war sie damit nur auf Ablehnung gestoßen.
„Tatsächlich?“, fragte Marens geisterhafte Gestalt mit dünner Stimme. „Woher willst du wissen, dass du nichts bewirkt hast, indem du deine Entscheidung verteidigst? Eine kleine Veränderung, die weitere kleine Dinge nach sich zieht. Vielleicht nicht für dich, aber für eine andere Frau. Die für dich dasselbe tut …“
„Wer bist du?“, rief Laura ihr noch zu, während ihre verwirrten Gedanken sich an die schwindende Erinnerung klammerten.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und zog sie sanft zurück an die Oberfläche.
Laura schrak hoch und blickte sich hektisch in ihrem vertrauten Badezimmer um. Die Perspektive war neu – vom Fußboden nach oben -, aber davon abgesehen, war alles an seinem Platz.
„Geht es dir gut?“, fragte Ben besorgt.
„Ich … ich bin mir nicht sicher …“
Hatte sie genau hier gelegen? Nicht ein paar Zentimeter weiter rechts? Hatte Maren bei ihrem Besuch auf Pause gedrückt oder war die Zeit weitergelaufen? War ihr Körper ohne sie zurückgeblieben oder hatte er sich tatsächlich bewegt? Laura drückte möglichst unauffällig gegen ihr Knie – kein Schmerz, kein blauer Fleck. Zumindest war sie nicht auf die Fliesen gefallen, als sie in Marens Blase zusammengebrochen war.
Hatte sie nur geträumt?
„Wie lange war ich hier drin?“
Ben zog die Augenbrauen zusammen. „Vielleicht zehn Minuten, länger nicht … Hast du geweint?“ Er zeichnete vorsichtig eine Linie auf ihre Wange, bis hinunter zu ihrem Kragen – ihrem nassen Kragen.
„Ein bisschen … vielleicht …“, murmelte Laura.
Ben umarmte sie wortlos, bis sie ins Hier und Jetzt zurückgefunden hatte und sich gegen ihn sacken ließ.
Einmal Vorspulen, bitte!
„Es geht mir gut, danke der Nachfrage.“
Dieser Satz gehörte seit dem Abbruch der Schwangerschaft vor über fünf Jahren zu Lauras Standardrepertoire. Sie sagte ihn zu Weihnachten, bei Geburtstagsfeiern, Einschulungen … und in jedem einzelnen Gespräch mit ihrer Tante.
„Wie geht es dir inzwischen damit?“ – „Es geht mir gut, danke der Nachfrage.“
„Es muss schwer für dich sein, so viele fröhlich lachende Kinder um dich zu haben.“ – „Es geht mir gut, danke der Nachfrage.“
Wie eine kaputte Schallplatte, die immer wieder denselben Song spielte. Dennoch gingen ihre Verwandten anscheinend fest davon aus, dass ihre Antwort sich eines Tages ändern würde. Laura hingegen liebte ihr Leben so wie es war.
„Entschuldigt mich kurz, ein Anruf für mich.“
Laura trat hinaus in den Garten. Sie war tatsächlich gerufen worden, aber nicht auf dem Handy. In sicherer Entfernung von den Partygästen blieb sie mitten auf dem Weg stehen und schloss die Augen. In Gedanken besuchte sie mit viel Licht und Wärme eine Frau, die an dem Tiefpunkt ihres Lebens, den Kopf müde auf den Küchentisch gelegt, stumm um Hilfe gebeten hatte. Laura hatte heute Dienst und ließ keine Anfrage unbeantwortet.
„Hallo“, sagte Laura, „ich bin Maren.“
